Nach 21 Stunden Fahrt kommen wir platt am Terminal Alameda im Herzen Chiles an. Hier bekommen wir per Cabify (Taxiapp) schnell eine Fahrerin aus Venezuela, die uns quer durch die Stadt zu unserem Hostel bringt. Unterwegs reden wir viel, bzw. sie am meisten, wie ein Wasserfall könnte man wohl sagen. Vor einem nicht näher als Hostel zu erkennendem Haus mit einer großen Tür setzt sie uns ab und wir klingeln, aber keiner öffnet. So stehen wir da, versuchen die Telefonnummer vom Hostel anzurufen, aber keiner antwortet. Irgendwann nach heftigem Klopfen an der Tür öffnet eine junge Frau, die hier auch nur zu Gast ist, aber wir können drinnen warten. Kurze Zeit später meldet sich auch die Besitzerin und wir können unser Zimmer beziehen. In der Unterkunft können wir sogar unsere Wäsche abgeben und sie wird umsonst für uns gewaschen. Eine schöne Überraschung! Im tollen Wohnzimmer ruhen wir uns zunächst etwas aus und kommen auf die verrückte Idee, in Südchile per Mietwagen die schönste Fernstraße der Welt, die Carretera Austral zu entdecken. Gesagt getan, wir buchen ein Auto für den ersten November, entscheiden aber auch, dass wir entsprechend bei Unterkünften sparen und uns daher ein Zelt zulegen müssen. Abends gehen wir nur noch zum Supermarkt, um für das Abendessen einzukaufen, bevor wir uns ins Bett begeben, um für den nächsten Tag fit zu sein. Max hat nämlich in aufwändiger Recherche eine Shoppingroute durch die Outdoorläden Santiagos zusammengestellt. Wir hoffen, hier nicht nur Ersatz für die geklauten Jacken, sondern auch das nun notwendige Campingequipment erstehen zu können. Außerdem benötigt Ann neue Schuhe, da ihre nach täglicher Nutzung und etlichen Kilometern den Geist aufgeben. Acht Stunden und 18 km später, sowie einige Euros ärmer, stoßen wir im Hostel mit einem leckeren Sauvignon Blanc auf die erfolgreiche Tour an. Nicht nur konnten wir, bis auf unser Gerät zur Wassersterilisierung, alles ersetzen, sondern wir haben auch noch ein günstiges und mit 1,6kg sehr leichtes Wanderzelt gefunden. Santiago gefällt uns überraschend gut. Die Ordnung und das gepflegte Stadtbild hier ist eine schöne Abwechslung und tun uns tatsächlich mal ganz gut. Hinzu kommt, dass Outdoorklamotten shoppen durchaus Spaß macht. Leichter macht es natürlich auch die Gewissheit eine Versicherung zu haben, die hoffentlich in naher Zukunft zahlt.
Am nächsten Tag wollen wir dann doch noch ein wenig Sightseeing betreiben und schließen uns daher einer Free Walking Tour an. Diese führt uns durch den zentralen Teil der Stadt rund um die Plaza de Armas. Während wir die teilweise alten Gebäude, aber auch die neuen Grafitti betrachten, erzählt der Guide einiges zur Geschichte Chiles und welche Entwicklungen dazu beigetragen haben, dass seit einigen Jahren so viele Gebäude mit Grafitti beschmiert sind. Im Gegensatz zu den künstlerischen Bemalungen in Medellin beispielsweise, die für uns wirklich Streetart waren, ist der überwiegende Teil hier eher nur Vandalismus. Diese Entwicklung nahm mit den Studentenaufständen 2019 ihren Anfang. Der Auslöser waren Demonstrationen gegen die teuren Bildungseinrichtungen beziehungsweise für die bessere Zugänglichkeit für Menschen geringeren Einkommens. Im Laufe der Proteste eskalierten diese und es kamen sogar einige Menschen zu Tode. Seitdem gibt es immer wieder Konflikte zwischen Demonstranten und der Polizei, insbesondere aber am Jahrestag der 2019er Aufstände. In Santiago sind daher alle Polizeiautos vergittert und verbeult. Wir sind zum dreijährigen Jubiläum bereits am nächsten Ort, hören aber von anderen Reisenden, die in die Demonstrationen inklusive fliegender Steine geraten sind. Die Probleme sind also immer noch nicht gelöst und viele Chilenen berichten uns auch, dass das Land instabiler und unsicherer geworden sei. Der andere Faktor, der dazu beiträgt, sind leider die venezolanischen Flüchtlinge, die überall in Santiago ihre behelfsmäßigen Zelte aufgeschlagen haben. Leider werden sie größtenteils sich selbst überlassen und so bleibt ihnen oft nichts anderes übrig, als sich in die Kriminalität zu flüchten.
Nach der Walking Tour probieren wir das Nationalgericht Pastel de Choclo. Das ist eine Art Auflauf aus Rinderhack und Hühnerfilet mit orientalischem Gewürzen und bedeckt mit zerstampftem Mais. Das ganze wird mit Zucker bestreut, der beim Backen karamelisiert. Klingt reichlich seltsam, ist aber lecker. Dennoch essen wir aufgrund der hohen Preise hier nur eine Portion zum Probieren. Anschließend gehen wir ins Museo de Memoria, um uns noch den letzten Rest Geschichte für den Tag zu geben. Im Museum wird die Geschichte des Pinochetregims mit Schwerpunkt auf die Menschenrechtsverletzungen in der Diktatur aufgearbeitet. Wirklich interessant und gut gemacht ist es, aber schwere Kost. Erschreckend ist besonders, das das ganze noch gar nicht lange her ist, die Schreckensherrschaft dauerte von 1973 bis 1990. Danach fahren wir per Bus zurück ins Hostel, kochen noch etwas und erholen uns von den 36 km, die wir in den letzten beiden Tagen in der Stadt zu Fuß zurückgelegt haben.

Am nächsten Morgen geht es per Bus nach Valparaiso. Es sind zwar nur knappe drei Stunden, aber dennoch verkehren auf dieser Strecke die bequemen Busse mit kinoartigen Sesseln, die sich um 160 Grad zurück lehnen lassen. Das ist zwar an sich übertrieben, aber wir freuen uns natürlich trotzdem über die bequemen Sitze. Unser Hostel ist direkt neben dem Terminal gelegen und daher müssen wir nicht weit mit unserem ganzen Gepäck laufen. Ein willkommene Abwechslung! Das ältere Ehepaar, Mariza und Manolo, das wir in San Pedro de Atacama kennen gelernt hatten, hat uns zwar vor dem Viertel rund ums Terminal gewarnt, aber die Unterkunft war günstig. Außerdem schien es uns eine günstige Lage zu sein, um auch die Nachbarstadt Viña del Mar gut erreichen zu können. Dass dies auch per Metro geht, wissen wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht, aber dazu später mehr. Jedenfalls scheint uns das Viertel nicht so problematisch, wie von den beiden überbesorgten Freunden beschrieben. Überhaupt sind die Chilenen, was das Sicherheitsempfinden angeht, eher Deutsch als Südamerikanisch. Nach Städten wie zum Beispiel Bogota, Cali und Quito scheint uns dieses Viertel nicht sonderlich besorgniserregend. Es sind viele Leute auf der Straße und es gibt etliche Marktstände, die von Gemüse bis Shampoo alles mögliche verkaufen. Tatsächlich dürfte hier, wenn überhaupt, die Gefahr des Taschendiebstahls existieren. Nach dem Einchecken gehen wir jedenfalls im nahe gelegenen Supermarkt einkaufen und versuchen Geld abzuheben. Leider bleibt es bei dem Versuch, da hier in Chile nach Bankarbeitsschluss auch oft die Geldautomaten geschlossen werden oder aber einfach nicht mehr funktionieren. Noch nie auf dieser Reise hatten wir solche Probleme an Bargeld zu kommen. Hier nervt uns dieses Land ein weiteres Mal, bisher fühlen wir uns wirklich noch nicht so richtig gut angekommen. Wir entschließen uns, nicht all zu lange hier zu bleiben und möglichst schnell nach Süden in Richtung der Natur Patagoniens zu reisen. Konsequent wie wir sind, buchen wir also spontan einen Nachtbus nach Puerto Varas in drei Tagen.
Nach einer erholsamen Nacht stürzen wir uns am folgenden Tag in den Behördendschungel. Wir haben nämlich noch immer nichts von der Behörde gehört, die den Diebstahl bearbeitet. Wir müssen allerdings noch für die Versicherung Details zu den gestohlenen Gegenständen nachreichen. Nach einiger Internetrecherche und zahllosen Telefonaten mit der Behörde in Arica, finden wir jedoch heraus, dass man das auch online erledigen kann. Dazu benötigt man jedoch ein Passwort, dass man sich allerdings in jeder Stadt ausstellen lassen kann. Also machen wir uns auf den Weg und erfahren, dass das so doch nicht funktioniert. Allerdings erwischen wir einen echt netten Beamten, der uns vorschlägt, die zusätzlichen Infos in Form einer eidesstattlicher Erklärung über ihn einzureichen. Dazu müssen wir jedoch zu einem Notar zur Beglaubigung. Voller Sorge, ob unsere knapp 38€ dafür reichen würden, probieren wir es. Die Assistentin des Notars füllt die Erklärung aus, Max unterschreibt und anschließend noch der Notar. Ein schöner Stempel darf natürlich auch nicht fehlen und dann kommen wir zur Rechnung. Die Assistentin verlangt cuatro mil Pesos, 4€. Wir erwarten natürlich deutlich mehr und glauben im ersten Moment cuarenta mil Pesos (40€), also mehr als wir dabei haben, zu hören. Eine Sekunde später realisieren wir jedoch beide, dass der Service geradezu spottbillig im Vergleich zu Deutschland ist und sind erleichtert. Gerade noch vor der Mittagspause der Behörde können wir die Erklärung einreichen und einige Tage später kommt auch tatsächlich das Geld der Versicherung an. Oder zumindest 70% der erwarteten Summe, die Versicherung plädiert auf grobe Fahrlässigkeit, da Max den Rucksack nicht auf dem Schoß hatte. Kann man nichts machen. Wir verbuchen das als Erfahrung und behalten unsere eher ambivalente Haltung gegenüber Versicherungen bei.
Im Anschluss nehmen wir noch an einer Free Walking Tour Teil, die uns zwar durch interessante Viertel führt, aber leider nicht so informativ ist. Valparaiso ist definitiv eine interessante, dreckige und auch in Summe keine sonderlich schöne Stadt. Die kleinen Häuser, zum Teil eher Bretterbuden, drängen sich an den Hügeln, da im flachen Bereich zwischen dem Meer und den Hügeln kaum Platz ist. Immerhin haben so die meisten Behausungen eine tolle Aussicht auf den windumtosten Ozean. Auf einem Hügel ist in den letzten Jahren die Gentrifizierung vorangeschritten. Hier finden sich stabile Häuser, teils alt, teils schicke Neubauten. Außerdem wimmelt es hier vor hippen Cafés und schicken Bars und die Wände sind mit Streetart verziert. Aber so richtig authentisch wirkt das ganze auf uns nicht, dazu gibt es hier auch zu viele Touristen.

Für den nächsten Tag haben wir uns zum Mittagessen mit Mariza und Manolo verabredet. Genau genommen haben sie uns zu sich nach Hause eingeladen, um uns die Aussicht zu zeigen, auf die sie sehr stolz sind. Gespannt machen wir uns also auf den Weg zur Metro, die immer an der Küste entlang zunächst durch Valparaiso und dann nach Viña del Mar fährt. Das ist tatsächlich die beste Transportmitteloption, die Nähe unseres Hostels zum Terminal ist dafür jedoch vollkommen irrelevant. In Viña angekommen rennen wir noch kurz in den Decathlon, um uns für Patagonien lange Regenponchos zu besorgen, bevor wir an einem Bootsanleger auf Manolo warten. Er will uns abholen, damit wir das Appartement auch sicher finden. Wir erwarten, dass er mit dem Auto kommt und so übersehen wir ihn zunächst, als er zu Fuß auf uns zu kommt. Zusammen fahren wir dann mit dem Bus den Berg hinauf, nachdem Manolo uns erklärt hat, wie das Bussystem hier funktioniert (wie bei uns und eigentlich überall mit Nummern). Oben angekommen bringt er uns zu einem Hochhaus mit zwei Pools, das hier über der Stadt thront und zusammen fahren wir in den 11. Stock. Auf dem Balkon gibt’s dann zunächst einen Pisco Sour als Aperitif, während wir die grandiose Aussicht über die Bucht und die Anden im Hintergrund bewundern. Für uns beide ist das Appartement ein echter Traum. Mariza und Manolo haben dieses schon vor 20 Jahren gekauft und heute muss es ein Vermögen wert sein. An klaren Tagen kann man von hier sogar den Aconcagua sehen, den höchsten Berg Südamerikas. Heute klappt das leider nicht, obwohl wir schon sehr weit bis zu den schneebedeckten Bergen sehen können. Auf der anderen Seite erstreckt sich der unendlich scheinende Pazifik. Irgendwo dort liegt Neuseeland, scherzen wir und genießen den Cocktail. Danach verspeisen wir den köstlichen Braten, den Mariza liebevoll für uns zubereitet hat. Die beiden sind wirklich liebe Menschen und kompensieren für uns so einiges, was uns bisher an Chile nicht gefällt. Rundum glücklich machen wir uns gegen Abend nach interessanten Gesprächen über Gott und die Welt wieder auf den Rückweg. Am nächsten Tag fahren wir nochmal nach Viña, um die Stadt ein wenig zu erkunden. Sie gefällt uns, insbesondere wenn man mit so toller Aussicht wohnen kann. Touristisch gibt es hier allerdings kaum Highlights. Nach drei Städten in 5 Tagen sind wir dann froh, abends in den Nachtbus zu unserem ersten Stopp in Patagonien zu fahren. Carretera Austral wir kommen!
